Die Wendewand
Wir sind seit der Informationsrevolution nicht mehr definierbar.
Anders gesagt: Wir sind weder zeitlich noch räumlich lokalisierbar.

Vilém Flusser

Eine Kunstschiene kreuzt die Wirklichkeit, kurvt in deren Spiegelung und schließt den Kreis: Metapher zum point of no return?

Ort und Zeit: Der Neubau einer Straßenbahnremise der Grazer Verkehrsbetriebe in der Steyrergasse, errichtet im Dezember 1986. Dem Ursprung des Wortes - remittere: zurücksenden, zurückwerfen - hat Wolfgang Temmel hier Gestalt gegeben. Remise als Thema eines sogenannten Kunst-am-Bau-Wettbewerbs provozierte ihn zum Widerstand, zum Widerstand am verbauten Zeitgeist postmoderner Sandwicharchitektur. Der trivialen Beherbergungsarchitekur ein- und ausfahrender Straßenbahnzüge eröffnete er einen - transparenten - Beziehungsraum der Kunst. Zurückgeworfen in die Irrealität einer nutzlosen Kunstschiene, die von der funktionstüchtigen abzweigend das nicht weiter auflösbare erneut in Frage stellt. Der öffentliche Verkehr ist zugleich End- und Ausgangspunkt für das Paradoxon eines sich selbst reflektierenden Denkraumes, den nur die Kunst zu bilden imstande ist.

Die gerade in den achtziger Jahren totgesagte Erkenntnisfunktion der Kunst hat Temmel in diesem Objekt wiederbelebt. Die 60 m² große Spiegelfläche aus Chromnickelstahl bricht kein Loch in die Wand, sie führt uns in die Nach-Bilder eines Ideenentwurfes. Eine Denkschiene kreuzt den Hin- und Rückweg öffentlicher Kommunikation, umkreist das Funktionelle. Ein Baum steht zwischen den Schienensträngen, als hä tte er sich dem Fortschritt in den Weg gestellt. Im Vorbeigehen erleben die Passanten den immer wieder neuen Entwurf von Wirklichkeiten jenseits verlaufender Denkspuren, die sich diesseits der Fassade aber entschlüsseln lassen.

Wolfgang Temmel hat mit dieser Arbeit eine Entgleisung inszeniert. Mit seiner Architektur des Ereignisses hat er in einem gewissen Sinn einen dekonstruktivistischen Zwischenraum ausgebildet. Das unendliche Spiel der Verweisungen, Permutationen und Substitutionen, ein geschlossenes System des Entgleitens (Derrida). Aber anders als jene dekonstruktivistische Architektur der Architektur ist Temmels Nullpunkt aus der Thematisierung des Undarstellbaren gespeist, aus der Er-Fahrung eines Ideen-Raumes.

Das Resultat ist in den - bewegten - Spiegelungen ablesbar: Temmel wirft uns mit dieser Wendewand zurück in die Spurbreite der Kunst und deren unendliche Verzweigung des Da-Seins, ins Offene.

Horst Gerhard Haberl